Sprachen bergen zahlreiche Geheimnisse in sich. Nicht nur die, die wir einander hinter vorgehaltener Hand zuflüstern, sondern auch andere, fast so alt wie die Menschheit selbst. Der Schlüssel hierzu nennt sich Etymologie. Sie ist die Wissenschaft, die die Herkunft, Geschichte und Bedeutung von Worten zu enthüllen versucht. Das Wort Magie kommt aus der indogermanischen Ursprache, die unter anderem die Vorgängerin des Deutschen ist. Es bedeutet ursprünglich so viel wie helfen, fähig sein, über Macht verfügen. Mit diesem Wissen wird ein wenig klarer, wie Menschen vor tausenden von Jahren ihre Welt gesehen haben. Unsere Vorstellung von Magie hat sich in all dieser Zeit scheinbar kaum gewandelt. Auch das ist ein wertvolles Geheimnis, das Sprache in sich birgt. Durch das Aufdecken der Geschichte unserer Sprachen verrät uns Etymologie vor allem einiges über die Geschichte der Menschheit. Und über unsere Beziehung zu der Welt um uns herum.

In einem Interview erzählte der Physiker Richard Feynman von einer Diskussion, die er immer wieder mit einem Freund führte. Der war Künstler und betrachtete Wissenschaft stets mit einer gewissen Skepsis. Laut ihm würde ihr analytischer Blick auf die Welt sie entzaubern. Betrachte man eine Blume aus einem wissenschaftlichen Standpunkt, verliere sie seiner Meinung nach ihre Schönheit, ihre Magie. Feynman sah das völlig anders. Ja, eine Wissenschaftlerin, die eine Blume betrachtet, könnte sich analytische Fragen stellen: Wozu hat diese Blume so eine intensive Farbe? Vermutlich hat sie sie im Laufe der Evolution entwickelt, um Insekten anzuziehen. Solche Schlüsse führen zu weiteren Fragen: Heißt das, Insekten sehen Farben? Heißt das, Insekten haben einen Sinn für Ästhetik? Handelt es sich dabei also nicht um eine Eigenschaft, die nur Menschen vorbehalten ist? Jede Erkenntnis führt zu mehr Fragen, legt die Vielseitigkeit der Welt offen und macht neugierig auf mehr. Der Blick durch das Vergrößerungsglas der Wissenschaft macht die Blume, die Welt, nicht weniger faszinierend. Im Gegenteil. Vielmehr deckt sie genau die komplexe Schönheit auf, die sonst auf dem ersten Blick verborgen bleibt.

In ihrer Fantasy-Reihe „Erdsee-Saga“ schuf die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin eine Version von Magie, in der Sprache der Schlüssel zu allem ist. Um magisch auf einen Gegenstand oder ein Lebewesen einzuwirken, muss man seinen wahren Namen, vor Ewigkeiten aus der Ursprache der Welt entsprungen, wissen. Wie bei etymologischer Analyse stellt sich ein angehender Magier der Aufgabe, den sprachlichen Ursprung jeder Sache zu lernen. Magie auf etwas einzuwirken bedeutet, es vollständig zu kennen, es gänzlich zu verstehen. Hier verwischen die Grenzen zwischen Le Guins Magie und Wissenschaft. Denn auch die Wissenschaft bemüht sich darum, den Geheimnissen unserer Welt, den Dingen, die nicht sofort ersichtlich sind, auf den Grund zu gehen. Mit dem gewonnenen Verständnis gelingt es Menschen, auf die Welt einzuwirken, sie umzuformen und völlig Neues hervorzubringen.

„Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden.“ Ein Zitat des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke, das sich mit jedem vergehenden Jahr ein wenig wahrer anfühlt.
Die meisten von uns tragen täglich ein Smartphone mit sich herum, doch könnten nur wenige vollständig erklären, wie es funktioniert. Das gleiche gilt für Flugzeuge, Röntgengeräte, Computer, für so ziemlich alle Errungenschaften der Technologie, die die Menschheit hervorgebracht hat.
Und dabei ist die technologische Entwicklung noch lange nicht vorbei. Ob man sie für gut befindet oder nicht: Zukunftsvisionen reichen von menschenähnlicher K.I. bis zu vollständig simulierten Welten, in denen die Menschheit eines Tages fortbestehen wird. Unsere Zukunftstechnologie ist von Science-Fiction kaum zu unterscheiden. Und die Science-Fiction kaum vom Fantasy-Genre.
Einer der am meisten angewandten Zauber in Fantasy-Geschichten ist der, mithilfe von Magie etwas aus dem Nichts zu konstruieren, aus Immateriellem etwas Materielles zu erschaffen. So ganz ist das nicht auf die Menschheit übertragbar, denn wir Normalsterblichen müssen die Ressourcen der Welt nutzen und damit arbeiten, um daraus etwas Neues zu kreieren. Trotzdem ist Technologie letztendlich der ultimative Beweis für die fast magische Macht unserer Vorstellungskraft. Jede materielle Sache, die unsere Spezies je hervorgebracht hat, entstand zuerst als nicht-materielle Idee im menschlichen Verstand.

Magie, das bedeutet helfen, fähig sein, über Macht verfügen. Vielleicht beweist der Blick auf die Sprachgeschichte dieses Wortes vor allem eins: Dass wir über unsere wahrnehmbaren Grenzen hinaus fähig sind. Und dass schon frühe Menschen genau das erahnten.