Nur die besten Erzähler*innen sind dazu fähig, Andere völlig in ihren Bann aus Worten zu ziehen. Sie wissen, wie sie die wertvolle Ressource ungeteilter Aufmerksamkeit erhalten und zu ihren Zwecken nutzen.
Scheherazade, die vielleicht mächtigste Erzählerin aller Zeiten, gelang dieser Zauber der Legende nach sogar 1001 Nacht lang. Mit ihren Geschichten versuchte sie, das aus Liebeskummer hart und grausam gewordene Herz ihres Herrschers zu erweichen. Jede Nacht holte der sich eine neue Jungfrau ins Bett und ließ sie dann am nächsten Morgen hinrichten, weil er keiner Frau mehr vertraute. Scheherazade wusste, um zu überleben, musste sie etwas bieten, das der Herrscher nur von ihr bekommen könnte. Und so begann sie, eine Geschichte zu erzählen. Er hörte zu und war schnell in ihrem Bann gefangen. So erzählte sie viele Stunden lang bis der Morgen schließlich graute. Und beendete ihre Geschichte nicht. Ungeduldig wollte der Herrscher natürlich wissen, wie es denn weiterginge. Am Abend desselben Tages würde sie weitererzählen, versprach sie ihm. Sie überstand den nächsten Tag, um am darauffolgenden Abend das gleiche Spiel nochmal zu spielen. So geschah es Nacht für Nacht, bis das Herz des Herrschers wieder weich und menschlich war und er versprach, sich zu bessern.
Scheherazade rettete sich mit einer genialen Erfindung. Einer Erfindung, die vermutlich so alt wie das Erzählen selbst ist, aber einen neumodischen Namen trägt: der Cliffhanger.  

Die Macht des Cliffhangers verzaubert uns damals wie heute. Er ist der Grund, warum wir Werbepausen über uns ergehen lassen und immer weiter „nur noch eine Folge“ einer spannenden Serie streamen, bis es auf einmal späte Nacht ist.
Der Begriff Cliffhanger hat seinen Ursprung in Thomas Hardys A pair of blue eyes, einem Roman aus dem Jahr 1873, der als monatliche Serie in einer Zeitschrift erschien. Darin umklammert der Protagonist einen Grasbüschel und hängt an einer Klippe – ein Cliffhanger eben – als ein Kapitel endet und Leser*innen gebannt auf die nächste Ausgabe warten mussten.

Der Herrscher aus 1001 Nacht und die Lesenden von A pair of blue eyes wollten nach den Cliffhangern unbedingt wissen, wie es weitergeht.
Wissen, wie es weitergeht. Ein tief menschliches Bedürfnis. Es ist wie ein Jucken, das man nicht kratzen kann und das deshalb immer intensiver wird. Oder eine Frage, auf die niemand eine Antwort weiß und die deswegen immer interessanter, immer drängender wird.

Meistens werden Cliffhanger zu Beginn der nächsten Folge einer Serie oder im nächsten Teil einer Filmreihe aufgelöst. Seltsam tragisch ist, wenn das nicht passiert. Es gibt viele in Vergessenheit geratene Serien, die am Ende der letzten Staffel einen Cliffhanger einbauten, oft in der Hoffnung, doch noch mehr Zuschauende von sich zu überzeugen. Doch die Fortsetzung kam nie.
Das gleiche gilt für manche Filme, wie etwa dem britischen Kultfilm Charlie staubt Millionen ab. Auch hier wird der Cliffhanger wörtlich genommen: Eine Räuberbande steckt mit ihrer Beute in einem wackeligen Bus fest, der auf dem Rand eine Klippe balanciert. In dieser sowieso schon brenzligen Situation versuchen sie, ihr Gold zu retten, ohne in die Tiefe zu stürzen. Kurz vor Schluss kündigt der Antiheld an, eine geniale Idee zu haben. Statt der spannenden Selbstrettungsaktion bekommen Zuschauende dann aber nur den Abspann zu sehen. Dieses unbefriedigende Ende wurde mit dem Plan geschrieben, dem Film eine Fortsetzung zu geben. Doch die kam nie. Dafür war Charlie staubt Millionen ab schlicht und einfach nicht erfolgreich genug.
Doch das Jucken, das Bedürfnis danach, zu wissen, was passiert, kann Zuschauer*innen so quälen, dass sie nur einen Ausweg sehen: Die Geschichte selbst zu Ende erzählen. Die Royal Society of Chemistry in Großbritannien ließ sich durch den ikonischen Cliffhanger dazu inspirieren, in einem Wettbewerb wissenschaftlich fundierte Theorien zu sammeln, wie das Schlamassel gut für die Räuber ausgehen könnte. Unter den Vorschlägen waren wilde Ideen wie das Schmelzen vom Asphalt, damit der Bus auf der Straße kleben bleibt oder das Auflösen des Golds durch Säure.

Besonders quälend ist so ein Cliffhanger wohl dann, wenn eine Geschichte dem eigenen Leben ähnelt. So geht es der jungen, tödlich erkrankten Hazel in John Greens Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Ihr Lieblingsbuch ist eines über ein Mädchen wie sie, namens Anna. Anna hat Krebs und weiß, dass sie jung daran sterben wird. Als das Buch plötzlich mitten im Satz aufhört, quält Hazel die Unabgeschlossenheit der Geschichte. Anna, aus deren Perspektive das Buch erzählt wird, muss gestorben sein. Einerseits versteht Hazel die Allegorie zum wahren Leben: Es gibt keine richtige Abgeschlossenheit vor dem Tod, ein Leben hört nun mal abrupt auf und ohne das Gefühl einer zur Vollendung erzählten Handlung. Aber was ist mit den anderen Figuren? Was wird aus ihnen, ohne Anna?
Ihre Wissbegier treibt sie mit der Hilfe eines Jungen namens Augustus nach Amsterdam, zum Autor des Buches. Der hat aber keine Antworten für sie. Anfangs bricht ihr das das Herz.
Doch kurz darauf lässt sich Hazel endlich auf Augustus ein, der in sie verliebt ist und für den sie die gleichen Gefühle empfindet. Sie stellt sich ihrer tiefen Sorge um ihre Mitmenschen, die ihren unvermeidlichen Tod eines Tages betrauern müssen. Und sie versteht, dass Augustus dieses Risiko eingehen will und dass sie das zulassen darf. Die Liebe ist die Trauer wert. Sie akzeptiert, dass sie nach ihrem Tod nie wissen wird, was aus ihren Mitmenschen wird, so schmerzhaft das auch ist. Sie akzeptiert die drohenden Cliffhanger.

Mir scheint, Cliffhanger basieren auf der menschlichen Annahme, alles habe einen Anfang und ein Ende, jedes Problem eine Lösung. Das weckt Neugier und kann motivieren. Zum Weiterlesen, Weiterschauen, Weiterforschen.
Es gibt aber noch eine ganz andere Dimension des Cliffhangers: die Realität, dass von einem einzelnen, sterblichen Menschen nicht alles erlebt, nicht alles gewusst und erfahren werden kann. Manche Cliffhanger werden aus den verschiedensten Gründen nie aufgelöst. Solche erinnern an die vielen Stellen in Michael Endes Die unendliche Geschichte, in denen Nebenfiguren die erzählte Geschichte verlassen, um anderswo – fernab der Lesenden – eine andere Handlung weiterzuführen. Sie reisen in die große weite Welt und verschwinden, begleitet von den immer wiederkehrenden Worten: „Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.“ Auf diese Weise schafft Ende ein Universum so vielseitig, komplex, so rätselhaft und lebendig wie das unsere. Ein Universum voller Cliffhanger.