Kalte Luft beißt in meine Lungen. Scharfe Krallen zerkratzen meine Haut. Tiefer und tiefer renne ich in die völlige Dunkelheit hinein. Meine Glieder werden immer schwerer und ich werde langsamer. Mit dunkler Vorahnung schaue ich auf meine Hand. Immer mehr Falten und Flecken wachsen darauf. Meine Haltung wird gebückter. Mein Körper schmerzt. Hinter mir höre ich schwere Schritte, die immer lauter werden. An meinem Nacken spüre ich schon seinen Atem. Ich will schneller rennen, aber es geht einfach nicht. Er muss mich nur berühren, denke ich, und dann ist alles vorbei.

Jeder ist schonmal im Traum verfolgt worden, völlig unabhängig davon, aus welcher Kultur man stammt. Ganz egal wo wir herkommen und wer wir sind, es gibt gewisse Urängste, die so universell sind, dass sie aus dem kollektiven Unterbewusstsein aller Träumenden gleichermaßen hervorquellen. Schlafforscher*innen vermuten, der Ursprung hierfür läge bereits in den Gehirnen unserer urzeitlichen Vorfahr*innen. Schon die winzigen Säugetiere, die sich in engen unterirdischen Höhlen zusammenkuschelten, während über ihnen die gigantischen Dinosaurier gegen ihr unvermeidliches Aussterben ankämpften, haben vermutlich geträumt.   
Wann immer ein Lebewesen davon träumt, verfolgt zu werden, wird sein Verstand für den Ernstfall trainiert. Somit ist es vorbereitet, sollte sich das Szenario in der wirklichen Welt ereignen. Seine Überlebenschancen steigen. Träumen ist eine Erfindung der Natur, die einen so entscheidenden evolutionären Vorteil brachte, dass sie uns bis heute blieb.

Wer in seinen Träumen noch nicht genug davon hat, der kann sich auch in Tarsier Studios Videospielreihe Little Nightmares verfolgen lassen.          
Ich starte das Spiel und wache als kleines Kind in einer überproportional großen, düsteren Welt auf. Aus allen dunklen Ecken könnte eine übergriffige Hand oder ein hungriges Maul hervorschnellen. Monströse Verfolger sind hier einige auf der Pirsch. Ich bemühe mich darum, das Kind, das ich steuere, leise über alte knarrende Holzböden und durch vogelverpestete Gräser schleichen zu lassen. Doch es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen: früher oder später knarzt immer eine Holzdiele, früher oder später kreischt immer ein Vogel. Durch den Lärm werde ich vom bewaffneten Jäger, vom hungrigen Koch oder vom kinderentführenden Hausmeister entdeckt. Der einzige Ausweg ist Flucht, doch ist der schnellste Weg nicht immer sofort ersichtlich. Meist braucht es mehrere Versuche, mehrere Male des Erschossen-, Zerquetscht- oder Erschlagen-Werdens, bis ich endlich schaffe zu entkommen.  
In jedem anderen Videospiel wirft mich das Sterben meiner Figur gedanklich aus der Handlung. Das Spiel lädt neu und aus Sicht der Spielfigur ist überhaupt nichts Besonderes passiert. Der Tod wird eine unbedeutende Fußnote, ein Ereignis, das ohne große Mühe einfach so zurückgenommen werden kann und das keinerlei Konsequenz für die Geschichte hat. In Little Nightmares wird das Sterben jedoch zum Teil der Handlung, anstatt irgendwo außerhalb davon stattzufinden. Es wird hier insofern „canon“ – also wahr innerhalb der dargestellten Welt – dass sich ihm die Spielfigur in Form eines Traums bewusst ist und dass sie eine Konsequenz aus ihm zieht, indem sie daraus lernt.  
Durch meinen letzten Tod weiß ich, wie ich überleben kann. Der Checkpoint wird geladen, das Kind sitzt auf dem Boden und hebt seinen Kopf. Es steht auf, reibt sich die schläfrigen Augen und stellt fest: Das gerade war wohl doch nur ein böser Traum. Aber es ist jetzt ein Stückchen schlauer als davor und macht dieselben Fehler nicht nochmal.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den kleinen urzeitlichen Säugetieren, von denen wir abstammen, und dem Menschen. Der moderne Mensch muss in der Regel nicht mehr vor hungrigen Kreaturen weglaufen, zumindest nicht im wörtlichen Sinne.   
Statt Säbelzahntiger plagen den modernen Menschen während seiner wachen Stunden stattdessen andere Monster, die sich auch in seine Träume schleichen. Stress im Job, Angst vor Bloßstellung oder dem eigenen Versagen, unterdrückte Sehnsüchte und viele mehr. Vor unserem inneren Auge drückt sich all das in Form von Szenarien aus, die diese Emotionen intensiviert hervorsprudeln lassen.      
Scham: Man sitzt in der Schule und bemerkt plötzlich, nichts an zu haben.
Kontrollverlust: Einem fallen alle Zähne aus.           
Schwere Enttäuschung: Man fällt im Traum immer weiter in ein bodenloses Nichts.           
Euphorische Freude: Man kann, ganz ohne große Anstrengung, fliegen.  
So finden diese Konzepte einen Ausdruck in Erfahrungen, die wir mit unseren Sinnen, vor allem dem Sehen, erleben können. Schlafforscher*innen vermuten, dies läge an der Tendenz des Gehirns, abstrakte Konzepte metaphorisch zu visualisieren. Gerade Sprichwörter belegen diese menschliche Eigenart ganz gut.          
Wir lassen die Hosen runter, wenn wir eine unangenehme Wahrheit preisgeben.            
Wir fühlen jemanden auf den Zahn, wenn wir die Person kontrollieren wollen.   
Wir fallen auf die Nase, wenn wir versagt haben.   
Wir schweben auf Wolke sieben, wenn wir glücklich sind.
Kein Wunder, dass unsere Träume so seltsame Bilder malen.

Auch in Little Nightmares wird man nicht nur verfolgt. Vor allem im zweiten Teil der Reihe findet man sich an Orten wieder, die eigentlich ganz alltäglich sein sollten, jedoch trotzdem zu Schauplätzen des Grauens werden. In einer heruntergekommenen Schule flüchte ich vor einer strengen Lehrerin, die alle Kinder vernichten will, vor allem mich. Sie ist erbarmungslos und hat übermenschliche Kräfte, die sie unbesiegbar machen. Sobald sie mich bemerkt hat, bin ich so gut wie tot. Irgendwie schaffe ich es schließlich knapp hinaus, aber nicht ohne mehrere fatale Versuche – Albträume – in denen sie mich erwischt. Später klettere ich in ein verlassenes Krankenhaus, bewohnt von Kreaturen, die weder eindeutig lebendig noch eindeutig tot sind. Unsicher balanciere ich auf der immer unschärfer werdenden Grenze zwischen Jenseits und Diesseits.

Ein schwerer Schleier liegt auf der Welt von Little Nightmares. Immer wieder wird Symbolik aufgegriffen, die an die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte erinnert.
Tief in den stählernen Eingeweiden eines riesigen Schiffes krieche ich durch einen komplett mit Schuhen befüllten Raum. Vor meinem inneren Auge blitzen alte Fotos aus der Zeit des 2. Weltkriegs auf: Berge von Schuhen, die einmal den Menschen gehörten, die Opfer des Holocausts wurden.
Ein anderes Mal wandere ich durch eine wenig bewohnte Stadt, die langsam zerfällt. Ich kann hören, wie ihre Gebäude knirschend mehr und mehr in sich versinken. Überall finde ich Kleidung, die so auf dem Boden liegt, als hätten sich ihre Träger*innen einfach in Luft aufgelöst. Bilder wie die der japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki nach ihrer Zerstörung durch Atombomben.  An manchen Stellen entdeckte man damals die Überreste echter Menschen, die sich bei der Explosion in Straßen, Wände und Treppenstufen wie Schatten eingebrannt hatten. Auch sie hatten sich plötzlich in Luft aufgelöst.
Little Nightmares 1 und 2 sind stille Spiele. Nichts wird erklärt. Keine Figur spricht und es gibt nichts zu lesen. Ihre eindringliche Welt flüstert uns dennoch düstere Dinge zu. Dinge, über die wir meist nicht sprechen wollen.

Dieser Traum, den ich einmal als Kind hatte, bringt mich bis heute zum Rätseln. Was bedeutet es, dass mich darin ein mysteriöser Mann verfolgt und ich älter werde, je näher er mir kommt? Ist es eine metaphorische Inszenierung meiner Angst vorm Altern und Sterben? Vielleicht war es auch nur ein zufälliges, interessantes Hirngespinst. Vielleicht sagt sehr viel mehr über mich aus, was ich in meine Träume hineininterpretiere, als meine Träume selbst.  

Wie ein Traum wird Little Nightmares nur über Geräusche und Bilder erzählt. Es bleibt durchgehend vage. Was wirklich passiert, können letztlich nur Spielende selbst erahnen. Seine Geschichte ist wie Rauch, den man deutlich vor sich sieht, jedoch niemals fassen kann. Je mehr man es versucht, desto schneller löst er sich auf.     
Mit Träumen verhält es sich oft ähnlich. Manchmal möchte ich jemanden von einem verrückten Traum erzählen und vergesse mitten im Satz, wie es weiterging. Und wenn ich mich doch vollständig erinnern kann, fühlt sich jede Beschreibung mangelhaft und oberflächlich an. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann meinem Gegenüber nicht dieses überwältigende Gefühl verständlich machen, das mich im Traum überkam – sei es kreischender Terror oder summende Leichtigkeit.         
Letztendlich ist es auch egal. Nur ich kann meine Träume erleben und nur für mich sind sie wichtig. Letztendlich sprechen sie nur zu mir.
So etwas wie einen kollektiven Traum gibt es nicht. Möchte ich aber die besondere, surreale Erfahrung machen, einen Traum mit jemand anderem zu teilen, dann ist die Spiel-Reihe Little Nightmares schonmal ein guter Anfang.