Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass eine Geschichte immer nur so aufregend wie ihre Tragweite sei. Ist eine Erzählung spannender, in der es um die persönlichen Konflikte einer Handvoll Charaktere geht? Oder die, in der das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel steht – verdammt, vielleicht sogar das des ganzen Universums?

Wer sich eingehender mir diesen Fragen beschäftigt, wird natürlich schnell merken, dass das Ganze um einiges komplizierter ist. Eine gute Geschichte macht vor allem aus, wie sie erzählt wird. Was darin passiert, kann bei besonders talentierten Erzähler*innen sogar ziemlich nebensächlich sein. Denn mit dem entsprechenden Können wird sogar eine Kurzgeschichte über eine Aufzugfahrt spannend und interessant. Eine gute Autorin weiß, dass auch in der Realität nichts wahrlich langweilig ist. Allein das Innenleben von Figuren kann so viel Tiefe und Komplexität aufweisen, dass seine Erforschung dem Wandern durch einen dichten, gefahrvollen und wunderschönen Dschungel gleicht. Das Universum muss nicht auf dem Spiel stehen, um eine Geschichte zu erzählen, die Leser*innen mitnimmt und berührt.

Trotzdem ist vor allem das Action-Genre von Filmen, Büchern und Videospielen angefüllt, in denen die Welt wieder und wieder kurz vor ihrem Untergang steht und der alles umfassende Lauf der Dinge von wenigen Protagonist*innen abhängt. Für diese großen Geschichten wird jedoch oft ein hoher Preis gezahlt. Denn meist fehlt neben der weiten Tragweite des Plots eine tiefgehende, berührende Handlung. Zwar fällt den Autor*innen solcher Geschichten immer mal wieder eine neue Art und Weise ein, wie ein ausgeklügelter Bösewicht das Ende der Welt herbeirufen könnte, doch fehlt dafür oft eine tiefgehende Handlung, eine Transformation der Charaktere, etwas, dass genau diese Erzählung erfahrenswert und erinnerungswürdig macht.

Das heißt jedoch keinesfalls, eine Geschichte, die beides kann, sei nicht möglich. Mein liebster Beweis hierfür ist das viel zu unbekannte Indie-Spiel Wandersong. Seit seinem Erscheinen in 2018 hat es mich nicht mehr losgelassen. Wie bei kaum einem anderen Spiel kehre ich in Gedanken immer wieder in dessen Welt und seine vertrauten Figuren zurück. Wandersong lebt sozusagen mietfrei in meinem Kopf. Das liegt jedoch weniger an der Tragweiter der Geschichte – auch hier muss das Universum gerettet werden – sondern an seiner emotionalen Tiefe, seiner Erzählkunst und der Hoffnung, die es in mir inspiriert.

Doch worum geht’s eigentlich? Obwohl eine wichtige Nebenfigur, die von vielen Charakteren als „die Heldin“ bezeichnet wird, anderer Meinung ist, kann die Welt in Wandersong nicht durch Gewalt gerettet werden. Denn das Lied der Götting Eya, aus der alle Existenz hervorgeht, neigt sich seinem Ende zu. Mit seinem Verstummen stirbt auch die Welt. Die letzte Hoffnung des Universums liegt somit in jemandem, der das „Erdenlied“ (im Original „Earthsong“) lernt und neu anstimmt, damit es wieder erwachen kann, anstatt von einer neuen Welt ersetzt zu werden. Und niemand ist dafür besser geeignet als ein … Genau! Ein Barde!

Der Barde beweist die Macht der Musik.

Der Protagonist in Wandersong ist dabei der positivste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Stets gut gelaunt mit einem Lied auf den Lippen und einem Tanz in den Füßen trabt er mit der unerschütterlichen Überzeugung durch die Welt, dass Musik die Welt retten könne. Als Co-Heldin trifft er schließlich auf die mürrische Hexe Miriam. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein, doch eines verbindet sie über ihre Differenzen hinweg: Trotz der ständigen Anzweiflung durch andere Figuren lassen sie nicht vom Glauben ab, dass das Universum rettenswert sei und überhaupt gerettet werden kann. Und aus dieser Motivation heraus wächst eine unwahrscheinliche, wunderbare Freundschaft heran. Die wiederum lässt beide als Menschen reifen.

Wandersong ist somit eine zutiefst emotionale, musikalische Reise. Das Gameplay setzt sich aus Plattform-Leveln und Puzzle-Elementen zusammen, die auf geschickte Weise die eigentlich recht simple Spielmechanik auf verschiedenste Arten einsetzt. Durch seine Sing-Stimme beeinflusst der Barde die Welt. Denn, wie er an einer Stelle der Hexe Miriam verrät, Musik ist die Art, in der sich das ganze Universum bewegt. Somit kann sie wie Magie die Welt transformieren. Auf diese Weise passt das Gameplay sogar zur erzählten Botschaft des Spiels – ein Geniestreich, der nur wenigen Spielemacher*innen gelingt.

Musik überwindet alle Grenzen – sogar die zum Jenseits. Durch Musik ermöglicht der Barde eine Jam-Session zwischen einem Kind und dessen verstorbene Mutter.

Während dieser Reise trifft der Barde auf alle möglichen Figuren. Divers wie wohl kein anderes bisher erschienenes Spiel bietet Wandersong den Austausch mit einer bunten Welt an einzigartigen Charakteren. Mal melancholisch und poetisch, mal witzig und sarkastisch sind die vielen Gespräche, die der Barde im Spiel führen kann. Dabei vermitteln nicht nur die clever geschriebenen Dialoge die interessanten Persönlichkeiten der Figuren, sondern auch der personalisierte Text, der mit Animationen pointenreich deren Gefühle zeigt. Wem es nichts ausmacht, beim Spielen auch mal etwas mehr zu lesen, der verliebt sich auf diesem Weg unweigerlich in die Charaktere und deren vielseitige Welt.

Niemand rettet das Universum allein.

Wandersong setzt sich mit der Frage auseinander, was es heißt, in einer verloren geglaubten Welt die Hoffnung zu behalten. Und welch weltverändernde Kraft aus dieser Hoffnung geschöpft werden kann. Somit spendet das Spiel nicht nur Trost an Menschen wie mich, die wie der Barde die Welt trotz seiner Makel lieben und gleichzeitig wie Miriam ihren womöglich bevorstehenden Verlust betrauern. Wandersong spendet das wertvolle Vertrauen darin, dass es nie falsch oder dumm ist, zu hoffen. Und dass trotz aller Widrigkeiten alles okay sein wird.