Trauer ist ein seltsames Land. Es ist ein Land, durch das wir alle eines Tages wandern müssen, das Viele sogar nie verlassen. Hat man es einmal betreten, bleibt für den Rest des Lebens unweigerlich etwas davon an den Fußsohlen hängen, das man ständig mit sich herumtragen wird.

Es gibt keine Karte für das Land der Trauer. Keinen Kompass, kein Navigationssystem, keine Sterne, die einen leiten. Es gibt keine Straßen oder befestigte Wege. Es ist eine leere Landschaft, durch die sich nicht einmal Trampelpfade ziehen. Nur Fußspuren zeichnen sich schwach im grauen Licht ab – jeder Wanderer und jede Wanderin geht einen eigenen Weg, in eine ganz andere Richtung, mal lang und voller Kurven, mal gerade und kurz.

Es ist eines der großen menschlichen Ziele, das Land der Trauer zu kartographieren. Um es verständlich für Neulinge zu machen und die Verirrten hinauszuführen. Vielleicht kann man ja doch einen Weg erschaffen, eine Straße oder sogar eine Autobahn – einmal durch und fertig! Das Land der Trauer ist überwunden. Aber geht das?

Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat versucht, eine Karte des Lands der Trauer zu zeichnen. Auf ihren Forschungsreisen entdeckte sie die Nebel-Sümpfe des Leugnens, die brodelnden Geysire der Wut, die Klippen des Verhandelns, die Eiswüste der Depression und das hoffnungsvolle, grenzenlose Gebiet am Ende jeder gelungenen Reise durch die Trauer – das offene Meer der Akzeptanz.

Auch die junge Gris aus dem gleichnamigen Videospiel muss Trauer durchschreiten. Durch die erdrückende Macht ihrer Trauer verliert sie etwas Unersetzliches – ihre Stimme. Schweigend und schwermütig schreitet sie durch das nebelige, farblose Ödland des Leugnens. Den Blick zu Boden gerichtet, vermeidet es Gris, die tatsächliche Welt um sich herum zu betrachten. Doch zögernd gewährt das Spiel nach und nach mehr und mehr Details. Die Bewegungen von Gris werden schneller, sie zu steuern fühlt sich leichter an. Der Nebel schwindet.

Das Ödland des Leugnens

Langsam schimmert Rot durch das Grau. Nachdem Gris riesige Hügel überwunden hat, rutscht sie in die stürmische Wüste der Wut. Nur durch Achtsamkeit lässt sich das Rätsel lösen; damit Gris gegen die zornigen Winde ankommen kann, die sie immer wieder zurückschleudern. Bald entdeckt sie eine neue Kraft – sie ist zerstörerisch und mächtig und ermöglicht ihr das Weiterkommen.

Die Wüste der Wut

Schließlich bricht sie zu einer neuen Welt durch, die völlig anders aussieht: Der grüne, lebensfrohe Wald des Verhandelns. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung. Es ist hier leichter zu glauben, in dieser schönen Gegend, in der sie sogar einen Freund findet, der für sie da ist und ihr nicht von der Seite weicht. Nach ihrer Wanderung durch die einsame Wüste ist Gris nicht mehr allein. Aber sie weiß auch, dass sie hier nicht bleiben kann. Sie muss alle Gebiete durchschreiten. Doch eine Fähigkeit hat sie durch ihre Wanderung durch den Wald wiederentdeckt: Leichtigkeit. Sie kann jetzt so viel höher springen als zuvor. Sie kann fast schon fliegen. Und sie hat im Wald das gefunden, was sie am meisten braucht – einen Hoffnungsschimmer. Gris kämpft sich weiter. Die Welt ändert sich wieder: Rot und Grün fließen in Blau.

Der Wald des Verhandelns

Im Höhlenlabyrinth der Depression verirrt man sich am leichtesten. Die von Blau durchdrungene Welt ist nass und kalt. Gris muss sich durch die dunkelsten Kammern wagen. Die junge Frau lernt die Fähigkeit der Gestaltwandlung, um die tückischen Irrwege zu überwinden. Rätsel für Rätsel dringt Gris weiter vor, bis mehr und mehr Licht und Farben durch das schwere Blau schimmern. Sie gibt nicht auf.

Das Höhlenlabyrinth der Depression

Nach langem Bemühen schafft sie es. Zum Blau gesellen sich zunehmend andere Farben. Lila und Magenta, Rot und Orange, Gelb und Grün. Die Säulen der Gebäude sind nicht mehr am Rande des Zerfalls, sondern stützen ohne Zittern ein immer höher in den Himmel wachsendes Gebilde. Gris erklimmt es und setz all ihre erlernten Fähigkeiten ein, um den Sternen näher zu kommen. Sie findet endlich wieder zu ihrer Stimme und mit ihrer Macht erstrahlt die Welt zu einem neuen Glanz, in dem sie Heimat findet. Es ist nicht genau die Welt, die sie zurückgelassen hatte. Sie wird für immer ein wenig anders sein. Aber es ist trotzdem eine schöne Welt.

Die erneuerte Welt der Heilung

Es ist keine leichte Aufgabe, einer trauernden Person wahren Trost zu spenden. Zu einfach fühlt sich eine Beileidsbekundung an, die den Schmerz über einen unumkehrbaren Verlust lindern soll. Zu oberflächlich ist die Empfehlung, doch einfach das Positive an der Situation zu sehen. Zu surreal ist die Aussage, dass alles eines Tages wieder besser werden würde. So gut gemeint solche Worte sind, so wenig helfen sie auch.

Durch das Land der Trauer führt keine Abkürzung durch tröstende Worte. Es muss ganz durchschritten werden. Es muss in all seinen Facetten gefühlt werden. GRIS hat mir wie kaum ein anderes Medium Trost im Umgang mit Trauer gespendet. Und das Spiel kommt dabei komplett ohne Worte aus.

Die Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross – Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Annahme – werden oft etwas zu genau genommen. Nicht jeder Mensch macht genau diese Phasen in genau dieser Reihenfolge durch. Trotzdem belegen sie etwas, das oft ignoriert wird: Trauer ist so viel komplexer als man auf dem ersten Blick vermuten würde. Sie beinhaltet eine bunte Reihe an Emotionen, positive wie negative, die alle zur Verarbeitung schrecklicher Verluste gehören können.

Die Symbolik der Farben in GRIS kommt dem tatsächlichen Fühlen von Emotionen auf eine intuitive Art näher, als es Worte meist vermögen. In nicht mal drei Stunden kann man im Spiel zusammen mit Gris das tun, wofür das Land der Trauer da ist: Es beschreiten, erleben, erforschen und schließlich überwinden. Trauer will gefühlt werden. GRIS ermutigt dazu, sich dem Land der Trauer bewusst zu widmen. Denn nur dann kann man es wirklich hinter sich bringen, ohne sich darin zu verirren.