Ich liebe Memes. Sie schaffen es wie kaum ein anderes Medium, Licht in einen eintönigen Alltag zu bringen. Ich liebe vor allem ihre Formbarkeit, die es erlaubt, dass im Grunde der gleiche Witz wieder und wieder erzählt werden kann, jedoch durch schon die kleinste Veränderung eine völlig neue Bedeutung annimmt.
Viele halten Memes für ein besonderes Phänomen des Internets, doch eigentlich geht ihre Geschichte weiter zurück. Viel weiter. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins schuf den Begriff ‚Meme‘ schon 1976. Also lange vor dem ersten Internet-Meme, das übrigens laut Professor Robert Thompson das Cha-Cha tanzende ‚Dancing Baby‘ von 1996 ist.
Seitdem rückten Memes immer mehr in das Zentrum medialer Forschung. Dabei reimt sich der Begriff ‚Meme‘ absichtlich mit dem englischen ‚Gene‘. Denn während ein Gen im Laufe der Evolution weitergegeben und verbreitet wird, macht ein Meme das Gleiche – jedoch auf einer kulturellen Ebene. Ein Meme muss nämlich nicht zwingend ein witziges Bild mit pointiertem Text sein; es kann sich dabei genauso gut um alles andere handeln, das Teil einer Kultur ist. Ein Meme kann eine Frisur sein, die in einer Gruppe immer beliebter wird. Es kann eine treffende Redewendung sein, die man plötzlich immer öfter hört. Ein Meme kann sogar eine Moralvorstellung sein, die sich über Religion verbreitet. Eine einzige Person kann die Quelle für eine neue Idee sein, die aus irgendeinem Grund so gut funktioniert, dass sie sich wie ein Lauffeuer in einer Kultur verbreitet.
Solche Memes sind oft schon so tief in unserem Unterbewusstsein verwurzelt, dass wir ihre ursprüngliche Bedeutung gar nicht mehr kennen. Wusstet ihr zum Beispiel, dass die Bezeichnung „08/15“ auf ein Gewehr aus der Zeit des ersten Weltkriegs zurückgeht, das zu den ersten massenproduzierten Produkten überhaupt gehörte? Oder dass wir „das kommt mir spanisch vor“ sagen, weil zu Zeiten der Herrschaft von Kaiser Karl V. spanische Sitten eingeführt wurden, die Deutschen fremd waren und sich deshalb komisch anfühlten? Solche Redewendungen illustrieren, wie ein Meme sich in einer Gesellschaft durchsetzen kann, bis sogar seine ursprüngliche Bedeutung zweitrangig und vergessen wird.
Zurück zu den lustigen Internet-Bildchen: Als Memes sind sie so viel mehr als nur gemeinschaftliche Running-Gags. Genau wie andere Medien auch – Filme, Serien, Bücher, Videospiele, Musik – transportieren sie bestimmte Ideen. Selbst wenn es auf dem ersten Blick nicht so scheinen mag, sind sie aufgeladen mit kulturellen Vorstellungen darüber, was richtig und falsch ist, sind angereichert mit Ideologie. Im Kern eines Memes liegt eine Botschaft.
Eine weitere Gemeinsamkeit mit der Evolutionsbiologie: Memes befinden sich in ständigem Wandel. Wie Gene, die mit der Zeit mutieren, bis die effektivste Eigenschaft im Überlebenskampf und das Gen, das sie auslöst, obsiegen. Und genau wie bei der Evolution von Genen kommt es bei Memes darauf an, in welcher Umgebung sie sich befinden. Man denke an das berühmte Beispiel der Galápagosfinken. Es wird vermutet, dass die verschiedenen Finken der abgelegenen Inselgruppe auf eine einzige Finkenart zurückgehen, womöglich auf ein trächtiges Weibchen, das es durch einen Sturm dorthin verschlagen hatte. Seitdem hat sich aber viel getan – der evolutionäre Stammbaum der Finken spaltete sich im mehrere Finkenarten auf, alle bestückt mit verschiedenen Schnäbeln für verschiedene Zwecke. Sie spezialisierten sich auf unterschiedliche Nahrung – die eine Art auf Insekten, die andere auf Kaktuspflanzen, wieder eine andere auf Nektar und so weiter. Aus einer Art entwickelten sich mehrere verschiedene, beeinflusst durch die Herausforderungen ihrer Umwelt.
Es gibt einen Zusammenhang zu Memes, versprochen! Denn hier kommen wir zu nihilistischen Memes, eine der unzähligen Kategorien, in die sich Memes wie die Finkenarten unterteilen lassen. Die Pointe dieser Memes ist immer eine ähnliche: Wir leben in einem unvorstellbar großen Universum, das sich nicht im Geringsten für uns interessiert und das Leben ist leidvoll und sinnlos. Ein paar Beispiele:




A ”No, I’m not okay” would have been enough, Son.
Der „Are You Okay Son”-Comic ist übrigens eine Version des „Are Ya Winning Son”-Memes, ein besonders variationsreiches Meme, das seit seiner Entstehung in 2014 – wer mutig genug ist, kann hier mehr über die Original-Version lernen – in 2020 ein Wiederaufleben erfahren hat. Das eingefügte Gesicht ist übrigens das Antlitz des rumänischen Philosophen Emil M. Cioran, dessen Schriften von einem ausgeprägten Pessimismus und Nihilismus geprägt waren. Wie passend!
Dabei scheint mir die Kategorie der nihilistischen Memes in der Online-Welt besonders beliebt. Ich glaube das liegt an der Umgebung, in der sie sich befinden, also dem Nutzen, auf den sie sich spezialisieren. Nihilistische Memes halten einer Gesellschaft, die ihre Werte in vielerlei Hinsicht oberflächlich und auf gekünstelt positiv wirkende Weise propagiert, den Spiegel vor. Man denke zum Beispiel an Werbung, eine Art von Medien, die uns ständig und so allumfassend umgibt, dass wir sie teils gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Werbung hat das Ziel, Konsument*innen dazu zu bringen, bestimmte Produkte zu konsumieren. So weit, so klar. Während es viele Strategien hierfür gibt, sticht eine Sache bei so gut wie jeder Werbung hervor: die positive Fassade, die verschönerte Verpackung, das unterschwellige Versprechen, ein Produkt würde dich – Ja, genau dich! – glücklich machen. Makellose Menschen aus Stock-Fotos lachen ihr geweißtes Strahle-Grinsen in Werbespots voll satter Farben. Die Implikation: Auch du kannst so fröhlich sein, wie diese Menschen! Und zwar mit diesem Produkt! Konsumiere!
Durchschnittliche Konsument*innen wissen natürlich auf einer rationalen Ebene, dass es nicht so einfach ist. Doch dieses Wissen allein reicht nicht, um sich der ständig propagierten Idee, etwas fehle im Leben und diese Lücke könne durch Konsum geschlossen werden, ganz zu entziehen. Letztendlich funktioniert die Werbung ja trotzdem, sonst würde es sie nicht in dieser Form und Breite geben. Was macht das mit einer Gesellschaft? Wir finden uns in einem Hamsterrad aus Arbeit und Konsum wieder, in dem versucht wird das Gefühl der Entfremdung und des Fehlens eines Lebenssinns durch künstlich aufgefächerte Bedürfnisse zu kompensieren. Aber was ist, wenn man merkt, dass die neuen Schuhe oder das neue Videospiel nicht wirklich die innere Leere füllen?
Hier setzen nihilistische Memes an. Sie verweisen auf die Hoffnungslosigkeit der Sinnsuche in einer solchen Gesellschaft. Sie zeigen den alltäglichen Schmerz darüber auf, ein Leben ohne Signifikanz zu führen, in dem eben nicht mehr möglich ist als einen unwichtigen Vollzeitjob zu arbeiten, bis wir eines Tages sterben und irgendwann vergessen werden, für immer im Dunkel des Nichts und der Bedeutungslosigkeit versunken. Mit ihrem trockenen Humor bieten nihilistische Memes genau das, was in anderen Medien in diesem Zusammenhang fehlt: Katharsis – laut Definition „das Sichbefreien von psychischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren.“ Dafür respektiere ich nihilistische Memes. Ich bin auch einmal dieser Hoffnungslosigkeit verfallen. Ich habe auch einmal das Gefühl gehabt, dass solche Memes endlich die Ideen aufzeigten, die woanders zu tabuisiert waren und nicht besprochen wurden.
Mit der Zeit wurde der kathartische Effekt der Memes für mich jedoch immer schwächer. Mein Lachen wurde zu einem belustigten Ausatmen durch die Nase wurde zu einem Schmunzeln wurde zu einem gleichgültigen Schulterzucken wurde zu einem Augenrollen. Irgendwann kennt man sie alle. Und irgendwann merkte ich, dass nihilistische Memes in ihrer Negativität genauso oberflächlich waren wie die seltsame Positivität der Werbung.
Versteht mich nicht falsch, wie ich schon beschrieben habe, verstehe ich ihren Reiz. Doch muss ich für mich sagen, dass ich aus meiner Nihilistischen-Memes-Phase rausgewachsen bin. Der Glaube über die Welt, der sich dahinter verbirgt, erscheint mit jetzt zu absolut, zu verschlossen gegenüber legitimen, alternativen Ideen. Zu oberflächlich und zynisch. Es ist keine Ideologie, die zur Neugier über die Geheimnisse des Universums einlädt. Eine gesunde Portion Zynismus ist gut. Aber zu viel Zynismus führt dazu, die Dinge nicht adäquat zu hinterfragen. Worum sollte man sich schon bemühen, wenn sowieso alles egal ist? Diese Haltung erlaubt kein Potenzial für Wachstum und Weiterentwicklung. Eine zynische Seele und eine zynische Welt stagnieren.
Aber es gibt eine Alternative. Eine Alternative, die tiefer geht, die zum persönlichen Wachstum motiviert, die ein transformatives Potenzial für ein Denken in sich hält, das die Welt verändern kann: Absurde Memes! Mit „absurd“ mein ich hier nicht, dass die Memes einfach nur unsinnig wären (zumindest nicht mehr als jedes andere Meme auch). Vielmehr handelt es sich um Memes, die von der Philosophie des Absurden inspiriert sind.
Der französische Philosoph Albert Camus ist der bekannteste Verfechter dieser revolutionären Philosophie. Für mich ist sie die perfekte Antwort auf die Vorstellung, das Leben habe keinen tieferen Sinn und all unser Handeln sei ultimativ bedeutungslos. Denn die Philosophie des Absurden bestreitet dies nicht mal. Stattdessen geht sie aber tiefer, indem sie ergründet, was diese Erkenntnis für ein menschliches Leben bedeutet. Es ist ein menschliches Bedürfnis, ständige Sinnsuche zu betreiben – kommt man dann auf den nihilistischen Schluss der universellen Bedeutungslosigkeit, ist die Folge für viele Menschen eine Krise: Angst, Verzweiflung, Depression. Die Philosophie des Absurden bestärkt uns jedoch dazu, trotz der wahrscheinlichen Sinnlosigkeit des Lebens (oder unserem Mangel an der Fähigkeit, einen tieferen Sinn überhaupt zu verstehen) nicht aufzugeben. Um das besser zu erklären, verwies Camus auf einen antiken Mythos.
Sisyphus ist eine Figur der griechischen Mythologie, die von den Göttern dazu verdonnert wurde, auf ewig wieder und wieder einen Felsblock einen Berg hochzurollen. Sobald er fast den Gipfel erreichte, rollte der Stein jedoch wieder nach unten und Sisyphus musste sich erneut an die Aufgabe machen. Und so lief es wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit. Irgendwo rollt Sisyphos noch heute den Felsblock hoch. Armer Kerl.
Wir sind gar nicht so anders. Schließlich hat sich nicht ohne Grund das Wort „Sisyphusarbeit“ als Meme in unsere Sprache eingeschlichen – auch wir müssen ständig Arbeiten verrichten, die wieder und wieder unsere Aufmerksamkeit verlangen. Wir müssen Einkaufen gehen, Geschirrspülen, Putzen, Dinge reparieren und – Oh Gott, das Schlimmste! – Wäsche waschen.
Doch hier sagt Camus das, was die Philosophie des Absurden so revolutionär macht: Wir müssen uns Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Okay. Ähm, wie bitte?!
So befremdlich es zuerst klingt, es ergibt Sinn. Camus erklärt, wie sogar jemand wie Sisyphus zufrieden mit seinem Leben sein kann. Sisyphos redet sich nicht ein, dass seine unsinnige Arbeit einen tieferen Sinn hätte. Er macht sich keine Hoffnungen über eine bessere Zukunft oder gar ein besseres Leben nach dem Tod. Er erkennt, dass seine Existenz im Hier und Jetzt liegt. Statt daran zu verzweifeln akzeptiert er – bewusst und bei vollem Verstand – seine Umstände. Seine Rebellion gegen die Sinnlosigkeit seiner Existenz liegt in dieser radikalen Akzeptanz. Hierdurch bleibt er Herr seiner eigenen Wirklichkeit – er ist wahrhaft frei.
Camus und seine Kolleg*innen laden nicht dazu ein, dass einem alles egal sein sollte. Im Gegenteil: Die Befreiung von der Last nach dem Bedürfnis nach einem absoluten Sinn gibt einem Bewusstsein den Raum, sich mit voller Leidenschaft und ungehemmt dem zu widmen, was tatsächlich wichtig ist – sei es auch „nur“ auf einer persönlichen oder gesellschaftlichen Ebene. Selbst wenn wir die Geheimnisse des Universums nie vollkommen verstehen können, forschen wir doch voller Neugier weiter. Selbst wenn wir vielleicht nie den Himmel auf Erden schaffen können, kämpfen wir beherzt weiter um eine bessere Welt. Selbst wenn es unmöglich ist, einen anderen Menschen gänzlich zu verstehen, reden wir weiter, hören weiter zu. Und lachen gemeinsam über die Absurdität des Ganzen, ohne daran zu verzweifeln.
Und endlich: ein paar Beispiele für solche absurden, lebensbejahenden und witzigen Memes:




Mein Favorit ist die absurde Version des „Are Ya Winning Son?”-Memes. Hier schlüpft der Sohn in die Rolle des Sisyphus, glücklich, trotz allem. Ein wahrer Gewinner.
Ich bin dankbar für absurde Memes. Sie sind tägliche Erinnerungen daran, dass mich die Sinnlosigkeit des Lebens nicht zum verzweifeln bringen muss. Und dass es so vieles gibt, für das es sich lohnt, zu leben – ob mit oder ohne Sinn. Also: Danke, absurde Memes. Durch euch fühle ich mich so wie der Sohn in dieser Variation von „Are Ya Winning Son?”:
