Andros konnte gehen. Nicht nur ein paar Schritte auf einmal, sondern sogar richtig weit. Wenn er wollte, könnte er an einem Morgen die taufeuchte Stadtmauer im Osten von Perpetuo berühren und den ganzen Tag durch die vielen Gassen seines Abgrunds wandern, um abends seine Handfläche auf die sonnengewärmten Steine der Westseite der Mauer zu legen.

Das war nicht selbstverständlich, denn all seine Mitmenschen konnten das nicht. Mit ihren Beinen waren sie eher ungeschickt. Stattdessen konnten sie nur fliegen.
Diese Fähigkeit war Andros dafür von den Göttern verwehrt worden. Schon als er als Säugling gefunden und von Hypatia aufgenommen wurde, schien klar, dass er nur zu einem Sonderling werden könnte. Schließlich war er das einzige Waisenkind in einer Stadt voller Menschen, die sich einst bei göttlichen Prüfungen und Abenteuern bewiesen hatten oder anderweitig die Gunst der Gottheiten erfuhren und zur Belohnung für den Rest der Ewigkeit an diesem Ort leben durften: In der heiligen Stadt Perpetuo, die von den Sterblichen einst auch das »irdische Elysium« genannt wurde.

Von Beginn an begegneten viele der Einheimischen Andros mit Skepsis. Die Umstände seines Erscheinens waren äußerst seltsam. Er lag als Säugling in einer Ecke hinter einer Statue Hecates. Ein Wunder, dass er überhaupt rechtzeitig entdeckt wurde. Hecate wurde nur selten von den Perpetuern besucht. Als Beschützerin derer, die starben und ins Reich des Todes übergingen, waren ihre Dienste nicht sonderlich wichtig für die ewige Stadt, in der alle für immer lebten. Ein Glück, dass Hypatia es sich zur Tradition gemacht hatte, die weniger gefragten Gottheiten zu ehren. Wenn sie gerade nicht in ihrem Atelier arbeitete, sah man sie oft zwischen den Säulen der einsamsten Tempel schweben, manchmal mit einem Korb Blumen im Arm, um die Häupter von Selene oder Eris zu dekorieren, manchmal mit einem Tuch in der Hand, um den Marmor von Iris oder Asclepius wieder zum Glänzen zu bringen.

Hätte Hypatia den kleinen Andros nicht entdeckt, wäre er zwar nicht gestorben, aber vermutlich wäre etwas anderes bedauerliches mit ihm geschehen. In manchen Nächten, während sie den schlummernden Heranwachsenden in ihren Armen hielt, dachte sie an Tithonos, den Menschen, in den sich die Göttin Eos so sehr verliebt hatte, dass sie Zeus bat, ihm das ewige Leben zu schenken. Dabei vergaß sie jedoch, Zeus ebenso um ewige Jugend für Tithonos zu bitten. So kam es, dass er bis in alle Ewigkeit weiter alterte, bis er langsam einging und verschrumpelte und irgendwann nicht mehr war als eine keifende Rosine. Ein Gefühl sagte Hypatia, dass es Andros ohne ihre Fürsorge ähnlich ergangen wäre. Sie drückte ihn umso fester an sich.
Obwohl es hieß, dass sie Andros gerettet hätte, glaubte Hypatia insgeheim, dass das auch umgekehrt stimmte. Sie hatte sich ihren Platz in Perpetuo durch ihr Märtyrertum für den Glauben rechtmäßig verdient, und trotzdem fühlte sie sich fremd unter all den Halbgöttern, Götter-Geliebten, Helden und deren Nachfahren. Die wenigsten hatten sich ihre irdische Neugier bewahrt, die meisten waren selbstzentriert und überheblich geworden wie die Gottheiten, die sie einst so ergeben verehrt hatten. Vor allem jedoch stimmte Hypatia skeptisch, dass die Perpetuer sich nicht daran störten, dass sie alle ihr früheres Leben fast vollständig vergessen hatten. Nur ihre Identität blieb ihnen, die wichtigsten Wendepunkte ihres früheren Lebens und eine vage Idee davon, wie anstrengend und ermüdend das irdische Dasein war, mit all seinem Hunger und Leid. Hypatia genoss es nicht, mit ihnen zu reden. Es war ihr ein Rätsel, warum sie keinen Verlust in ihrem Vergessen sahen. Sie spürte die Erinnerungslücken schmerzlich.

Andros jedoch machte über alles angemessen große Augen: die kleinen mechanischen Wunderwerke, die Hypatia bastelte, die Geschichten, die sie erfand und ihm vorlas, die Mischwesen, die sie gerne zeichnete. Gleichzeitig bewunderte sie ihn ebenso sehr: das exquisite Farbenchaos, das er mit in Farbe getränkten Händen auf Papier drückte, die verschiedenen Oktaven an Lachen, die er hervor glucksen konnte, die Begeisterung, mit der er jedes Blatt, jeden Schatten, jeden Stein bedachte. Es war, als würden sie und Andros die gleiche Sprache sprechen, selbst, als er noch gar nicht sprechen konnte. Er war das einzige Kind in Perpetuo, zu dem sie intensiven Kontakt hatte. Obwohl ihr nichts näher am Herzen lag als das Lehren, wollten die anderen Eltern nicht, dass ihre Kinder von Hypatia beeinflusst wurden. Schließlich weigerte sie sich, das perpetuanische Gesetz der kosmischen und immerwährenden Gleichheit zu akzeptieren, das besagte, die Perpetuer sollten sich vor allem Neuen entschieden abwenden, da es für den Verfall und das Vergessen des ewigen Imperiums sorgte. Erst als sie ihn bei sich aufgenommen hatte und ihm den Namen Androcleides – kurz Andros – gegeben hatte, begriff sie, wie sehr sie Kinder vermisst hatte.

Die Perpetuer waren erleichtert, dass die zwei einander gefunden hatten. Die meisten fanden Hypatia wunderlich. Was bezweckte sie nur mit all ihren Experimenten, Messungen und Kunstwerken? Sie hatte die Ewigkeit und die Gewissheit, dass der Glaube der alten Griechen die einzige und absolute Wahrheit war. Wozu dieser irdisch angehauchte Forschungsdrang? Perpetuo war nach mehreren hunderten Jahren das prachtvoll schillernde, vor Leben und Überfluss strahlende, aber von der wirklichen Welt vergessene Überbleibsel der griechischen Antike. Doch, und das erfüllt seine Bewohner mit tiefstem Glück, es würde auch bis in alle Ewigkeit weiterbestehen – oder zumindest, solange es die Götter gab. Perpetuo war das Land ewiger Gleichheit. Ein tieferer Frieden, so glaubten die Bewohner, war eigentlich nicht möglich.

Das reichte Hypatia offenkundig nicht. Aber wenigstens schien sie mit Andros Erziehung eine erfüllende Aufgabe gefunden zu haben. Was machte es schon, wenn die beiden ein seltsames Duo abgaben? Wenigstens drängte Hypatia nicht mehr ständig darauf, alles in dieser Stadt zu verändern. 

Eine weitere Eigenheit Perpeutos war die Möglichkeit, Dinge in die Welt zu träumen. Wann immer der Wunsch nach einem Gegenstand bestand – sei es eine schöne Vase, ein köstlicher Granatapfel, ein praktischer Besen – konnten die Perpetuer versuchen, ihn herbei zu träumen und er würde am nächsten Tag auf magische Weise erscheinen. Doch die Qualität der Dinge hing auch von der Vorstellungskraft der Perpetuer ab und von ihrer Kenntnis des besagten Gegenstands. Manchen lag es einfach nicht im Blut. Sie würden erwartungsvoll von etwas träumen und ihr Wunsch hatte sich scheinbar manifestiert, doch dann würde die Phiole Olivenöl, der Hocker oder die Schreibfeder bei der ersten Berührung wie Sand durch ihre Finger rinnen. Diese weniger talentierten Bewohner konnten andere bitten, ihnen die gewünschten Schätze zu erträumen. Manche Dinge waren auch schlicht komplexer als andere. Ein ganzes Haus zum Beispiel war unmöglich in einer einzigen Nacht zu erträumen, sondern es brauchte mehrere Wochen, um Raum für Raum zu wachsen. Manchmal fragte sich Hypatia still und heimlich, ob sie, nicht ganz absichtlich und halb-bewusst, den kleinen Andros erträumt hatte. Und ob er vielleicht deshalb nicht ganz vollständig geraten war.

Denn umso seltsamer schien Andros den Perpeutern, als er mit dem Heranwachsen keine Flügel entwickelte. Die Perpetuer hatten angenommen, dass sie sich wie bei seinen Altersgenossen nach dem dritten Lebensjahr bilden würden. Doch sein Rücken blieb kahl wie eine Marmorplatte. Stattdessen fing er wie selbstverständlich an, auf seinen zwei Beinen durch die Welt zu tapsen. Diese Phase wühlte Hypatias heftig auf. An allen Kanten schien eine Bedrohung zu lauern. Er könnte in Perpetuo zwar nicht sterben, doch würde sein Körper vermutlich auf grauenhafteste Weise auf dem Boden zerschellen und er schreckliche Schmerzen leiden, ehe die mystischen Kräfte dieser Stadt ihn wieder zusammensetzen würden, als würde er rückwärts schmelzen. Hypatia mochte Experimente, doch hier blieb sie lieber ignorant. Sie behielt Andros immer genau im Auge. So oft es ging, trug sie ihn mit sich.


Irgendwann wurde Andros jedoch schlicht zu schwer für die Arme seiner Adoptivmutter. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hypatia jedoch schon an einer Erfindung gearbeitet. Bald trug Andros stets ein Konstrukt von ihr mit sich, das sie ‘Scala’ getauft hatte. Die Scala bestand aus zwei gleich langen Pfählen, die parallel zueinander mit mehreren Brettern verbunden waren. Er konnte sie an jede Mauer lehnen, um eine höhere Ebene zu erreichen, und über jeden Abgrund legen, um von einer Plattform zur nächsten zu wechseln. Wenn er sie gerade nicht benutzte, konnte er sie zusammenschieben, sodass sie um ein Vielfaches kleiner war. Dann trug er sie wie einen Rucksack auf seinen Rücken. Ohne seine Scala hätte Andros wohl den Rest seines Lebens im verwinkelten Abgrund Pupertuos verbracht, der sich wie ein dunkles Labyrinth durch die ganze Stadt erstreckte und in den die Einheimischen täglich ihre Abfälle und Nachttopf-Ansammlungen hinein schütteten.

Perpetuo war eine Stadt wie aus den Visionen des Zeichners Piranesi: eine unendliche marmorne Landschaft aus vielstöckigen Tempeln, Säulenwäldern, weiß schimmernden Statuen und uneinsichtigen Irrwegen. Viele Höhen und Tiefen dieser Stadt waren schlicht zu dramatisch, als dass sie Andros mit seiner Scala überwinden könnte. Andros Unfähigkeit zum Fliegen bereitete den Stadtbewohnern einige Unannehmlichkeiten. Wollten sie Andros nicht ausschließen und kein schlechtes Gewissen haben, so mussten sie immerzu darüber nachdenken, ob er bestimmte Orte überhaupt erreichen konnte.
Wollten sie etwa im hoch gelegenen Colosseum Gladiatorenspiele und Theaterstücke abhalten, so brauchte es mindestens zwei starke Athleten, die sich bereit erklärten, den halbstarken Andros hunderte Meter in die Höhe zu schleppen. Herkules hätte diese Aufgabe mit seiner halbgöttlichen Stärke sogar alleine gemeistert, doch er wehrte sich gegen solcherlei Bitten mit dem Argument, er wolle nicht zum alleinigen Verantwortlichen für Andros werden. Würde er einmal anfangen, sich um den Jungen zu kümmern, würde ihm bald die Aufgabe täglich zuteilwerden. Dabei war er doch kein Pfleger! Manchmal half er Andros aber doch, nachdem ihm Hypatia eine ihrer berühmten Standpauken gegeben hatte. Sie war gut im Streiten.

Auch für die vierteljährlichen Ephebike-Meisterschaften stellte Andros ein Problem dar. Wäre er normal geboren worden, so hätte er wie alle seine Altersgenossen an den Spielen teilhaben und den 30 Meter hohen Torring erreichen können. Solange er nur auf dem Boden rumgurken konnte, stellte die Sache ein eher unangenehmes Spektakel dar. Nach ein paar Versuchen, bei denen er für sein Team den fallenden Ball unten am Boden abfing und immer wieder hoch zu ihm schoss (wobei er sich durchaus als fähiger Mitspieler erwies und durchaus Spaß hatte), war es das Publikum, dass den Schlussstrich zog. Der neue Spielstil lenkte schlicht zu sehr ab und das war der langen Tradition des Ephebike unwürdig.
Auch in der Schule war es nicht einfach für Andros. Sollte er mal etwas vorne an der Tafel ausrechnen, so kam er nur gerade so mit seiner Scala heran. In Perpetuo fand das ganze Klassenzimmer traditionell in mittlerer Höhe statt – die Kinder saßen auf Schaukeln, die hoch über dem Boden schwebten. Andros versuchte zuerst, sich damit zu arrangieren, doch wurde ihm beim Anblick der Tiefe so schwindlig, dass seine Schaukel bald deutlich niedriger hängen musste. So kam es, dass die anderen Schüler weit über seinem Kopf schwebten und manche sich einen Spaß daraus machten, ihn von oben mit kleinen Wachskugeln zu bewerfen, die sie aus ihren Schrifttafeln heraus gekratzt hatten. (Wem es gelang, eine Kugel auf seinen Kopf zu schießen, ohne dass er es bemerkte, bekam 100 Punkte.)
Wo auch immer Andros dabei war, war er im Weg, mussten sich alle auf ihn einstellen, sich nach ihm richten, meist mit einem gezwungenen Lächeln, manchmal auch mit einem feindseligen Kopfschütteln. Er war es so leid. Ihm waren die Umstände, die er seinen Mitmenschen bereitete, zutiefst zuwider.

Lange hatte die Aussicht, dass Perpetuo sich nie ändern würde, Andros sehr traurig gestimmt. Er würde wohl bis auf alle Ewigkeit mit seiner Scala umher laufen und den anderen auf die Nerven gehen, auch wenn die meisten dies nicht zugaben. Der Wunsch, nicht mehr anders zu sein, legte sich wie ein schwerer Stein in seinen Brustkorb, auch wenn Hypatia sich stets bemühte, ihm diese Sehnsucht auszureden. 
»Die Natur wollte dich, wie du bist. Was natürlich ist, ist weder schlecht noch bietet es einen Grund, sich zu schämen«, pflegte Hypatia zu sagen, ganz nach ihren Prinzipien des Kynismus – eine Philosophie, die sie in der irdischen Welt gelebt hatte und die die meisten Perpetuer nur mit einem Augenrollen bedachten. 

Meist hoffte er, sie würde einfach akzeptieren, dass er eben nicht so ganz in diese Welt hinein passte. Doch es war gegen ihre Natur, solcherlei Ungerechtigkeit widerstandslos hinzunehmen. Er spürte die Liebe in ihren Worten und doch tröstete sie ihn nicht. Sie verstand seinen Schmerz nicht, gab ihm keinen Raum. Und so versteckte er seine Traurigkeit vor ihr. 

Was sie jedoch miteinander und scheinbar mit niemandem sonst besprechen konnten, waren die seltsamen Risse, die sie an zahlreichen Stellen der Stadt bemerkten. Immer wieder fand Andros neue kaputte Stellen im Marmor, manche Risse waren größer als er selbst. Niemand anderes schien jedoch sonderlich Notiz davon zu nehmen. Hypatia versuchte, mit den anderen Philosophen darüber zu sprechen, doch diese meinten nur, dass die Götter schon dafür sorgen würden, dass der Stein an besagten Stellen genesen würde. Die Philosophen hatten sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen, insbesondere mit der Frage, wer von ihnen denn am meisten mit seinen Theorien recht habe. Widerwillig wandte sie sich auch an Agamemnon, der sich als der inoffizielle Bürgermeister Perpetuos verstand, doch auch dieser wollte nichts davon wissen, tat ihre Sorgen gar als Blasphemie ab.

Eines Nachts hatte Andros einen seltsamen Traum. Er kletterte auf einen hohen Tempel, der der Göttin Tyche gewidmet war. Über der großen weißen Fläche schwebte ein schwarzer Kreis, der eine eigentümliche Anziehungskraft auf Andros auswirkte. Langsam ging er darauf zu. Er blickte in das Loch hinein und da sah er es: Viele schmale Plattformen, die sich parallel aneinander reihten und versetzt Stück für Stück immer weiter in die Tiefe führten, bis die Dunkelheit zu dicht wurde, als das Andros das Ende des Tunnels sehen könnte. Ein Wort echote in Andros Kopf. Es fühlte sich nicht neu an, eher seltsam vertraut, wie etwas, das man einst vergessen hatte und das jetzt plötzlich wieder ins Gedächtnis schoss: Treppe. Er wachte auf, eher er das Wunderwerk genauer erkunden könnte.

Am nächsten Morgen begann Andros sofort, Hypatia von seinem Traum zu erzählen. Jedoch hatte er das Gefühl, es wäre unmöglich, ihn wahrheitsgetreu zu beschreiben, weil er schlicht unbeschreiblich war. Seine Worte waren ungenügend. Er konnte nicht vermitteln, wie er sich angefühlt hatte. Doch er versuchte es trotzdem. Als er gerade von der Treppe erzählen wollte, rief jemand von draußen nach Hypatia. Sie warf ihm einen sorgenvollen Blick zu und flog aus dem Raum. Andros folgte ihr zögerlich.

Auf einem Tempel mit besonders hohen Säulen und einer weiten, leeren Fläche, hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die immer weiter anwuchs. Perpetuer aus allen Himmelsrichtungen bemerkten den Trubel und schwebten auf den Tempel zu. Andros kletterte mit viel Mühe hinauf. Er war mit seinen vierzehn Jahren mittlerweile ein geübter Kletterer geworden, doch dieses Gebäude war mit seiner Höhe und seiner verwinkelten Fassade eine besondere Herausforderung. Ohne seine Scala hätte er es niemals geschafft. Keuchend kam er nach einer Weile oben an. Die Perpetuer diskutierten aufgebracht miteinander. In ihrer Mitte erkannte er den Grund: Das Loch aus seinem Traum, das die Raum-Zeit selbst zu durchschneiden schien, hatte sich hier materialisiert.
Andros ging darauf zu. Niemand schenkte ihm Beachtung, als er es neugierig umkreiste. Sobald er es von der Seite ansehen wollte, schwindelte es ihn ein wenig. Das Loch war nicht zu sehen. Es verhielt sich nicht wie ein normaler Gegenstand, war nur von vorne sichtbar. Andros stellte sich wieder davor. Wie in seinem Traum erstreckte sich eine Treppe in eine immer dunkler werdende Tiefe. Ein kühler Wind kam ihm entgegen. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Da, wo der Rand des Loches und Andros Wirklichkeit aufeinandertrafen, fühlte sich die Luft zäh wie Honig an.

»Heh, du!«, rief jemand aufgebracht. Andros drehte sich um und erblickte Platon, der, umgeben von seinen engsten Anhängern, auf ihn zu schwebte.
»Die Erkundung dieser Projektion ist nicht nur dir vorbehalten. Hüte dich davor, hineinzugehen, ohne es mit uns anderen abzusprechen!«, sagte er eindringlich. Plötzlich packte jemand Andros am Arm, irgendein halbstarker Halbgott, dessen Namen er vergessen hatte.
Aus einer anderen Richtung ertönte Heraklits Stimme: »Dieses Objekt muss im Gegensatz zu etwas anderem stehen, die Frage ist nur, womit. In der Beantwortung dieser Frage liegt der Hinweis auf seinen Zweck.«
Jetzt meldete sich Demokrit zu Wort: »Die sinnliche Erkundung des Objektes wird uns nicht zu mehr Weisheit über seine Natur verhelfen. Lediglich die philosophische Ergründung wird den nötigen Erkenntnisgewinn bringen.«
Alle Philosophen, die etwas auf sich hielten, drängten sich nach vorne, um ebenfalls etwas zu sagen. Aristoteles, Sokrates, Pythagoras und viele mehr versuchten, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Andros rauchte der Kopf.
»Genug!«, rief eine vertraute Stimme. Alle verstummten. Hypatia hatte sich neben Andros vor dem Loch platziert. »Habt ihr aufgeblasenen Besserwisser vielleicht auch mal die Geistesgegenwärtigkeit, um zu erkennen, dass sich nicht alles auf eure persönlichen Lieblingstheorien beziehen muss? Und wieso hält ihr meinen Sohn eigentlich fest, als wäre er ein Schwerverbrecher?«
Sie warf dem Halbgott, der Andros Arm umklammert hielt, einen Blick so giftig wie der einer Medusa zu. Der wiederum schaute nur unsicher in Richtung Platons.
Platon räusperte sich. »Es ist anzunehmen, dass diese Sache hier ein Geistesgespinst deines Kleinen ist. Schließlich ist es mit etwas versehen, dass die meisten von uns nicht brauchen, ja dessen Existenz in der realen Welt wir sogar fast vollständig vergessen haben, da es von so außerordentlicher Unnützlichkeit für uns normale Perpetuer ist: Stufen.«
Ein Raunen ging durch die Menge. In manchen der Zuschauer schien das Wort noch etwas wie Erkenntnis auszulösen, die meisten zeigten jedoch einen Ausdruck angestrengter Verwirrtheit.
»Unter diesem Umstand ist es angebracht, zu hinterfragen, zu welchem Zweck Andros dieses Objekt herbeigewünscht hat. Eine Treppe hat auch ein Ende, ein Ziel. Wo führt sie hin?«
»Das weiß ich doch selbst nicht!«, entgegnete er entrüstet.
»Wir müssen die Götter befragen«, meldete sich jemand zu Wort. Agamemnon. »Nur so bekommen wir eine wahrhaftige Antwort. Ich traue dem Krüppel nicht.«
»Du, der du für die Götter sogar deine eigenen Kinder opferst«, giftete Hypatia wütend. »Glaube ja nicht, dass ich mich auch zu so widerlichen Schandtaten erniedrigen lassen würde, wie du!«
»Lass uns nicht gleich von so drastischen Mitteln ausgehen«, beschwichtige Platon. »Er hat recht. Die Götter werden uns ihren Rat geben.«
»Bis dahin dürfen wir den Invaliden nicht aus den Augen lassen«, sagte Agamemnon. »Am besten, nehmen wir ihm dieses alberne Ding ab, das er immer mit sich rumschleppt. Dann kommt er nicht mehr hier hoch.«
So kam es, dass Andros seine Scala genommen wurde. Hypatias Protest schenkte niemand Beachtung. Ein paar Männer packten Andros und flogen ihn zu Agamemnons Anwesen, wo er in einem Gästezimmer eingesperrt wurde. In diesem prunkvollen Gefängnis wartete er nun darauf, dass irgendetwas passierte. Allein mit ein paar Gemälden von Iphigenie, der Tochter von Agamemnon, die er für den Sieg gegen Troja geopfert hatte. Wieder einmal fragte er sich, warum Agamemnon in Perpetuo aufgenommen worden war, Iphigenie jedoch nicht.

In seinem stillen Zimmer bekam Andros nichts von den Unruhen mit, die draußen immer weiter brodelten. Alle Perpetuer bemühten sich darum, die Götter anzurufen. Die herrlichsten Tränke – Wein, Milch und Öl – wurden in Altarfeuer gegossen, um Rauch zum Himmel aufsteigen zu lassen und die Götter gnädig zu stimmen. Ein Tier nach dem anderen – Rinder, Schweine, Schafe – wurde erträumt, um gleich darauf geschmückt und auf einem Bosmos für Zeus, Hera, Ares, Athene, Hades, Persephone und andere geopfert zu werden. Ein Stimmengewirr aus rituellen Formeln durchdrang die Luft Perpetuos wie der Weihrauch, der überall angezündet wurde, um Unheil abzuwenden.
Doch nichts geschah. Bei der Orakelbefragung ließ sich nichts aus den Innereien der getöteten Tiere herauslesen. Kein Zeichen wurde geschickt. Nicht der Donner Zeus, nicht die Blütenpracht Persephones, kein plötzlicher Sonnenauf- oder -untergang durch Helios. Niemand wurde mit einer Vision gesegnet. Nichts.

Angst machte sich unter den Perpetuern breit. Warum schwiegen die Götter? Hatten die Perpetuer sie verärgert? Waren sie ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig? Mit dem wachsenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Rituale kamen immer mehr Theorien auf, bis sich eine unter den meisten Leuten durchsetzte: Es musste etwas mit Andros zu tun haben. Natürlich, wie konnten sie es denn nicht früher erkennen? Er war nicht mit Flügeln gesegnet worden! Irgendwie musste er in Perpetuo gelandet sein, obwohl er den Göttern nicht willkommen war. Dass die Perpetuer ihn tolerierten, war eine Beleidigung höchsten Grades. Dass Andros hier leben durfte, verstieß gegen das Gesetz der immerwährenden Gleichheit, die vonnöten war, um das wahrhaftige griechische Imperium gegen den gnadenlosen Zahn der Zeit zu verteidigen. 

Nicht alle glaubten diese Theorie, aber solche hatten auch keine Alternative zu bieten, die das Schweigen der Götter besser erklären konnte. Also schwiegen auch sie, als Andros aus Agamemnons Haus gezerrt und wieder vor das Loch gebracht wurde.
»Es ist an der Zeit, die Dinge wieder richtigzustellen«, verkündete Agamemnon vor der versammelten Menschenmenge. »Die Götter haben uns eine einzige klare Botschaft geschickt. Wir waren nur zu töricht, um diese sofort zu verstehen.«
Andros saß auf dem Boden, die Hände am Rücken gefesselt, müde und allein. Er achtete kaum auf Agamemnons Rede, suchte stattdessen die Menge nach einem vertrauten Gesicht ab. Doch Hypatia war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sie irgendwo eingesperrt, damit sie das hier nicht mit ansehen musste. Oder störte. 
Jetzt wandte sich Agamemnon zu Andros. »Wir müssen die Dinge wieder ins Gleichgewicht bringen. Schlüpfe hinein in das Loch. Und sollte es irgendwo hinführen, dann lasse dich nie wieder hier blicken. Es ist Zeit, nach Hause zu fliegen … zu gehen, meine ich.«
Andros hatte keine Wahl. Jemand drehte ihn um und drückte ihn auf das Loch zu. Er wehrte sich nicht und ging hinein. Die Menge verfiel in tosenden Beifall. Etwas wackelig ging er die Stufen hinab. Er war es schlicht nicht gewohnt, auf so einem Ding zu gehen. Doch bald hatten sich seine Beine an den regelmäßigen Rhythmus des Treppensteigens gewöhnt. Mittlerweile war es völlig still. Keine Stimmen der Menge oben drangen mehr zu ihm durch. Es gab keine Lichtquelle, doch auf eine seltsame Art schimmerten die marmornen Stufen in mondgleichem Licht, sodass er genug sah, um weiterzugehen. Immer tiefer drang er in die Dunkelheit vor sich hinein. So ging es eine halbe Ewigkeit weiter.

Während seines Abstiegs dachte er über die Bedeutung von alldem nach. Würde das alles am Ende irgendeinen Sinn ergeben? Stimmte es, dass er das Problem war, ein Fehler im System? Was wollten die Götter nur? Er dachte über die Risse nach, die er immer wieder in den Fassaden der Stadt bemerkt hatte. Ja, dachte er, es ergibt Sinn. Die Stadt selbst, mit ihrer sonderbaren Beseeltheit, erodierte wegen Andros, wehrte sich gegen seine Teilhabe am ewigen Jenseits, dessen er schlicht nicht würdig war. Vielleicht war er durch einen Komplott einer Gottheit gegen andere Götter in Perpetuo hinein geschlüpft. Die Götter mit ihren ewigen Streitigkeiten und ihrem ständigen Drang, einander zu überbieten – wer wusste schon, wer sich jetzt gegen wen verschworen hatte, sich mal wieder für sein verletztes Ego rächen musste. Bestimmt war Andros nur ein kosmischer Witz, eine Spielfigur in den Intrigen der Götter. Er musste an Prometheus denken, der den Menschen das Feuer gebracht hatte, damit Zeus hinterging und in Folge schrecklich bestraft wurde. Nein, Andros mochte die Götter nicht, zumindest nicht die meisten. Ausgesprochen hätte er diesen Gedanken jedoch nie.
Auf eine seltsame Art hatte er auch Mitleid mit ihnen empfunden. Diese unsterblichen Wesen, in der Ewigkeit gefangen, immer bedacht darauf, ihren Stolz zu schützen, um nicht für den Rest der Zeit eine unehrenhafte Existenz zu fristen, um stattdessen auch ja immer weiter von den Menschen bewundert und angebetet zu werden. Heimlich hatte Andros vermutet, dass die Götter Perpetuo hauptsächlich erschaffen hatten, um weiter die Verehrung der Menschen zu empfangen. Auf der irdischen Ebene waren sie schließlich nur noch als Sagen- und Mythengestalten bekannt. Andros hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Götter selbst einer noch viel größeren Macht unterlagen, die sie genauso fürchteten, wie die Menschen die Götter.

Plötzlich zeichnete sich unten in der Dunkelheit schemenhaft eine schwere hölzerne Tür ab. Andros kam darauf zu und drückte, erst sanft, dann fester, dagegen. Er schritt hindurch und eine weite, leere Dunkelheit erstreckte sich in die Ferne hinein. Außer einem edlen, marmornen Boden konnte er nichts erkennen. Zögerlich ging er voran, machte jeden Schritt mit Bedacht. Auf einmal sah er ein sanft schimmerndes Licht in einiger Entfernung. Er ging darauf zu und erkannte eine Kerze. Dann flammte ein weiteres Licht neben ihm auf, ein drittes auf der anderen Seite und immer mehr. Stück für Stück war der Raum von mehr goldenem Schein erfüllt. Er sah eine Halle, die bis an die Decke mit Regalen erfüllt war, die endlos viele Pergamente aufbewahrten. Sechs gigantische Säulen trugen den Saal. Neben Schriftrollen säumten noch zahlreiche weitere Schätze den Raum: riesige Karten, bemalte Amphoren, Teleskope, eine riesige Sanduhr, allerlei Gefäße, Schreibfedern und noch so vieles mehr, dass Andros noch nie zuvor gesehen hatte und damit nicht benennen konnte.

»Nicht schlecht, oder?«, hörte er eine vertraute Stimme sagen. Hypatia. Sie saß am Ende des Saals, die Beine locker auf einem schweren Tisch überschlagen.
»Es tut mir leid, dass ich dir das hier nicht früher gezeigt hab. Ich hatte lange zu große Angst, dich mit meinem Geheimnis nur noch mehr in Gefahr zu bringen. Und es tut mir leid, dass die anderen Perpetuer so ungünstig auf den Eingang reagierten. Es war nicht meine Absicht, ihn so früh zu erträumen. Ich wollte dir die Vision schicken, damit du eines Tages vertraut mit dem seltsamen Durchgang bist, der nur für dich erscheinen sollte. Irgendetwas musste jedoch schiefgegangen sein und das Loch hatte sich schon jetzt materialisiert. Tyche sei Dank, dass es absehbar war, dass sie dich früher oder später sowieso hinein schicken würden.«
»Dieser Ort …«, Andros hatte kaum erst seine Fassung zurückgewonnen. »Wie ist so etwas möglich? Hast du etwa …?«
»Ja«, sagte Hypatia. »Ich habe ihn erträumt. Viele der Dinge hier sind in Perpetuo verboten. So musste ich mir ein geheimes Lager für all die Schätze erträumen, um sie in Ruhe genießen zu können. Ich gebe dir gerne mal eine Führung, wenn du das willst.«, sagte sie und stand auf. »Zuerst muss ich dir jedoch etwas anderes zeigen.«
Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zu einer Tür am Ende des Saals.
»Meine neuste Ergänzung«, sagte sie und schritt mit ihm hindurch. Sie standen in einem kleinen, dunklen Raum. Zwei Hebel befanden sich direkt vor ihnen, und eine Glasscheibe, hinter der es ebenfalls gänzlich dunkel war. Hypatias Stimme zitterte leicht, als sie zu reden begann: »Ich weiß, dass du hier unglücklich bist, Andros. Ich habe lange die Augen davor verschlossen. Es zu akzeptieren, war schwer erträglich. Es tut mir leid, dass ich so lange versucht habe, es dir auszureden.«
Andros wollte widersprechen, ihr zugestehen, dass es ihm schon nicht so schlecht gehe und dass sie immer ihr Bestes getan hatte, um sein Leben angenehmer zu machen. Doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. 
»Es ist in Ordnung, wirklich. Dir wurde kein einfaches Leben beschert. Ich bin trotzdem froh, dass du in meines gekommen bist.«
Sie wandte sich zu der Glasscheibe um. Etwas leuchtete auf. Mit offenem Mund trat Andros näher. Ganz Perpetuo erstreckte sich vor ihm – in Form eines kleinen Modells.
»Nicht schlecht, oder? Es ist alles da.«, sagte Hypatia stolz. Andros sah sich alles genau an. Jeder Tempel, jedes Haus, jeder Garten, alles, was er je aus nächster Nähe erblickt hatte, konnte er im Kleinen wiedererkennen.
»Und jetzt stell dir vor, die Stadt wäre auch für dich gebaut«, flüsterte Hypatia verheißungsvoll. Langsam veränderte sich Perpetuo. Wie aus dem Nichts materialisieren sich Brücken, die die Abgründe der Stadt überwindbar machten und Tempel miteinander verbanden, Treppen, die jede Höhe erreichbar machten, Leitern, mit denen selbst die verwinkeltsten Türme erklommen werden konnten. Andros dachte an all die Orte, die er nie erkunden konnte, weil sie unerreichbar waren. Die Stadt erschien ihm mit einem Mal so viel größer.
»Es ist tatsächlich möglich, Andros. Wenn du den Hebel betätigst, wird sich dir ein neues Perpetuo offenbaren, sobald du oben wieder heraus schreitest. Ich weiß nur nicht, wie die Leute reagieren werden. Die Veränderung würde gegen das Gesetz der immerwährenden Gleichheit verstoßen. Jedoch wage ich zu hoffen, dass sie sich auf lange Sicht mit dem neuen Perpetuo arrangieren könnten.«
Andros blickte sie zweifelnd an. Doch sie wartete nicht auf seinen Einspruch.
»Es gibt auch eine andere Möglichkeit«, sagte sie. Hinter dem Glas wurde es wieder dunkel. Dann begann etwas allmählich inmitten der Schwärze bläulich zu schimmern. Eine Kugel, die sich langsam um die eigene Achse drehte, umgeben von Sternen. 
»Es gibt einen anderen Ort, zu dem ich uns schicken kann. Das Zuhause der Sterblichen. Wir würden beide einer von ihnen werden und über die Treppe zu ihnen gelangen. Auf ihrer Ebene gibt es viele verschiedene Orte, zu denen wir reisen könnten. Vielleicht kommen wir irgendwo hin, wo die Menschen weniger voreingenommen gegenüber allem sind, was anders ist. Sicher weiß ich es jedoch nicht. Es könnte besser sein, es könnte gleich sein, vielleicht könnte es sogar schlimmer sein. Aber es wäre zumindest eine Chance. Eine Chance, dem Gesetz der immerwährenden Gleichheit zu entkommen.«
Andros war überwältigt. Seine Brust verengte sich. Hier und jetzt würde er über den ganzen Rest seines Lebens entscheiden. In seinem Kopf rangen so viele verschiedene Fantasien miteinander. Die Perpetuer könnten ihn hart dafür bestrafen, die Stadt für immer verändert zu haben. Und in der irdischen Welt würden er und Hypatia wieder sterblich werden. Mit der Aussicht, dass sich sein Leben vielleicht gar nicht maßgeblich verändern würde. Doch wer war er schon, um über Perpetuo zu entscheiden? Die Götter zu beleidigen? Am besten wäre es doch, wenn alles beim Alten bliebe. Eigentlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein und niemanden zu stören.
Dann musste er an etwas völlig anderes denken. »Die Götter … warum antworten sie nicht?«
Hypatia lächelte müde. »Das tun sie schon lange nicht mehr. Die Perpetuer haben es nur erst jetzt bemerkt. Ich weiß nicht sicher, warum sie schweigen, aber …«, sie zögerte. »Aber ich vermute, dass sie nicht wahrhaftig die höchste Macht in diesem Universum sind. Vielleicht ist die Flamme ihres vermeintlich unsterblichen Daseins doch erloschen. Oder sie haben schlicht keine Lust mehr auf Götterspielen. Still sind sie jedenfalls schon lange.«
Andros schloss die Augen und ging in sich. Irgendwie hatte ihm diese Erkenntnis eine neue Klarheit geschenkt. Entschlossen blickte er Hypatia an. Er wusste jetzt, was er tun wollte.

Wenige Momente später schritt er die Treppe hoch. Sein Gang war jetzt leichter. Hypatia schwebte dicht hinter ihm. Komme was wolle, sie würde seine Seite nicht verlassen.
Andros sagte leise in der Stille: »Vielleicht haben die Götter erkannt, dass das Festhalten an der Gleichheit töricht ist. Dass die Veränderung unaufhaltsam ist. Dass jeder Ort unter dem Widerstand durch eine erzwungene Gleichheit letztendlich früher in sich zusammenfällt, als nötig.«
Hypatia war stolz auf ihn.

Als sie oben die Tür öffneten, schmerzte sie blendendes Tageslicht. Sobald sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, sahen sie, dass die meisten Perpetuer schon längst weg waren und sich gar nicht mehr für das Loch zu interessieren schienen. Ein wütender Agamemnon empfing Andros und Hypatia und beschuldigte sie der schlimmsten Beleidigung gegenüber den Göttern. Sie wurden wieder weggesperrt, nach zwei Tagen jedoch wieder freigelassen, nachdem sich genug Perpetuer zusammengetan hatten, um Einspruch gegen ihre ungerechte Behandlung einzulegen. 

Endlich durfte Andros das neue Perpetuo erleben. Er schritt über Brücken, erklomm die höchsten Türme. Die Perpetuer hatten sich schnell an die Veränderungen gewöhnt. Ihnen waren die Brücken, Treppen und Leitern ziemlich gleichgültig. Was ihnen positiv auffiel, war, dass die Risse verschwunden waren. Vielen waren sie nämlich tatsächlich aufgefallen, sie hatten jedoch nicht gewagt, davon zu sprechen.
Das Gesetz der immerwährenden Gleichheit war für immer durchbrochen. Bald durfte Hypatia endlich die Kinder unterrichten. Und zu den Göttern wurde auch nicht mehr gebetet.